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(08/16) Im Dialog: Münchner Hochschulen und die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe -Kinder, Jugendliche und Familien nach der Flucht
Veranstaltungsreihe der Hochschule München und der Katholischen Stiftungsfachhochschule 2016 erfolgreich gestartet
28/04/2016
Etwa 60 Millionen Menschen sind gegenwärtig weltweit auf der Flucht, jeder dritte nach Deutschland einreisende Flüchtling ist ein Kind oder Jugendlicher. Nach Schätzungen der UNICEF leben derzeit 65.000 Flüchtlingskinder mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Deutschland. Inzwischen prägt europa- und deutschlandweit die Abwehr geflüchteter Menschen die politischen und gesetzlichen Beschlüsse. Auch die professionsethischen Standards und fachlichen Mandate werden durch die politischen Rahmenbedingungen gefährdet. So kippt die Einigung auf das Asylpaket II im Januar 2016 die geplanten Mindeststandards in Flüchtlingsunterkünften, die den Schutz von Frauen und Kindern sichern sollten und setzt den Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus aus. Und zunehmend mehr Politiker und Politikerinnen bestreiten aus Kostengründen generell die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete Kinder und Jugendliche.
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Vor diesem Hintergrund stellen sich weitreichende Fragen an Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit sowie an politische Entscheidungsgremien.
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Auftaktveranstaltung am 12.04.2016
Zur Auftaktveranstaltung der Reihe IM DIALOG, getragen von der Hochschule München (HM) und der Katholischen Stiftungsfachhochschule München (KSFH), erschienen ca. 300 Gäste, darunter Vertreterinnen und Vertreter des bayerischen Staatsministeriums für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, des Bayerischen Landtags, der Regierung von Oberbayern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Münchner Jugendamtes sowie der Träger und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, des Deutschen Jugendinstitutes, Studierende und Professorinnen wie Professoren der beiden Münchner Hochschulen. Die Auftaktveranstaltung fand an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München statt.
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Die Vizepräsidentinnen der Hochschulen, Prof. Dr. Gabriele Vierzigmann und Prof. Dr. Annette Vogt, benannten in ihren einführenden Statements, dass die Kinder- und Jugendhilfe vor immensen Herausforderungen steht: Die gesetzlichen, kommunalen und institutionellen Rahmenbedingungen müssen gestaltet und angepasst, die unterschiedlichen Bedürfnisse der geflüchteten Menschen intensiv in den Blick genommen sowie die Professionalität der Fachkräfte in Aus- und Weiterbildung befördert werden. Sie verwiesen auch auf die vielfältigen Hochschulaktivitäten, um sowohl den Studierenden der Sozialen Arbeit, als auch den geflüchteten Menschen selbst Anschlussmöglichkeiten an die Hochschulen zu gewährleisten.
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Fachvortrag Prof. Dr. Dr. hc Reinhard Wiesner
Zum Spannungsfeld von Flüchtlingspolitik sowie Kinder- und Jugendhilfepolitik hielt Prof. Dr. Dr. hc Reinhard Wiesner den Einführungsvortrag der Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Kinder, Jugendliche und Familien nach der Flucht. Menschen die bleiben – Soziale Verantwortung im Spannungsfeld aktueller Asyl- und Kinder- und Jugendhilfepolitik“. Reinhard Wiesner stellte unter anderem dar, dass spätestens bei der Frage der Stellung eines Asylantrages eine bedeutsame Schnittstelle zwischen dem Kinder- und Jugendhilferecht, dem Ausländerrecht und dem Aufenthaltsrecht entsteht. Gerade die Frage des ausländerrechtlichen Status bestimmt vielfältige Weichenstellungen. Zwar ist im Kinder- und Jugendhilferecht das Primat der Jugendhilfe und damit das Kindeswohl verankert, allein dies garantiert aber noch keinen aufenthaltsrechtlichen Status. Wiesner betonte, dass es dabei nicht allein um eine Einschätzung des Kindeswohls bzw. einer Kindeswohlgefährdung gehe, sondern dass dem Kindeswohl bei allen Entscheidungen Vorrang eingeräumt werden müsse, was bei der derzeitigen Lage allerdings häufig nicht eingelöst werde.
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So muss auch nach der UN-Kinderrechtskonvention das Kindeswohl in allen Kinder betreffenden Maßnahmen vorrangig berücksichtigt werden. Das vielzitierte Primat der Jugendhilfe erlange zudem nur Geltung bei der Erstversorgung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger, es gelte nicht für die Kinder und Jugendlichen, die mit ihren Eltern geflüchtet sind. Es sei zwar nachvollziehbar, dass in einer akuten Anforderungssituation die Standards der Kinder- und Jugendhilfe gebrochen werden, doch müsse die Frage aufgeworfen werden, ob dieses Handeln verstetigt oder gar gesetzlich legalisiert werde.
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Kinder, so Wiesner, erleiden auch das Schicksal ihrer Eltern. Kinder, die mit ihren Eltern geflohen sind, sind also von der Rechtssystematik der Asylregelungen für Erwachsene betroffen und meist in entsprechenden Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht. Werden dann die Asylbestimmungen für die Eltern verschärft, seien damit auch die begleiteten Kinder betroffen sind.
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Reinhard Wiesner betonte, dass das Nebeneinander und Gegeneinander der unterschiedlichen Gesetzeslagen einer dringenden Harmonisierung bedürfe. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, hier für eine kohärente Gesetzgebung und Politik zu sorgen, die die Berücksichtigung des Kindeswohls und das Recht auf Förderung aller jungen Menschen in Deutschland in den Mittelpunkt stelle. Nur so ließe sich das Potenzial für Integration besser nutzen.
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Ebenso fordert auch die UNICEF, dass ausländerrechtliche Verfahren, die Kinder betreffen, am Kindeswohl ausgerichtet werden müssen und das die Angebote der beratenden Einrichtungen so ausgestattet werden müssen, dass sie aktiv auf die Kinder und ihre Familien zugehen können. Um dies zu gewährleisten, so zitiert Wiesner aus der Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums vom Januar 2016, sei es notwendig, dass Gesellschaft, Politik und Fachkräfte in pädagogischen und sozialen Arbeitsfeldern gefordert sind, ihre eigene Position zu klären. Eine Position, in der alle Beteiligten verpflichtet sind, menschenrechtliche Vereinbarungen und humanitäre Werte genau an der Zielgruppe einzulösen, die diese Hilfe am dringendsten benötigt – die Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland Schutz vor Krisen, Krieg und Verfolgung suchen.
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Fachvortrag Dr. Heinz Kindler
Der zweite Vortrag „Kinder, Jugendliche und ihre Familien nach der Flucht – Schutz und Sicherheit als Aufgaben“ von Dr. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut in München schloss inhaltlich an die Thematik an. Kindler stellte dar, dass Kinderschutz und Migration bislang eher international als Fachthema ausgewiesen ist. Eine Studie des Instituts für sozialpädagogische Forschung in Mainz, so Heinz Kindler, zeigt, dass bei vielen Fachkräften erhöhte Unsicherheiten im Umgang mit Kinderschutzfragen bei Migrationshintergrund geäußert werden.
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Bemerkenswert sei, dass es trotz einer Vielzahl von Belastungsfaktoren zu keiner Überrepräsentation bei Gefährdungsmeldungen gekommen sei. Die hauptsächlich wahrgenommen Gefährdungssituationen waren verschiedene Formen der Vernachlässigung, das Miterleben von Partnerschaftskonflikten und Partnerschaftsgewalt sowie geschlechtsspezifische Formen der Gefährdung, wie der Verdacht auf Zwangsverheiratung, das Einsperren von Mädchen oder das Ausüben von sexueller Gewalt.
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Hierbei, so Kindler, sei aber besonders zu bedenken, welche strukturellen Bedingungen in den Gemeinschaftsunterkünften herrschen und das diese institutionellen Mängel maßgeblich zu den Gefährdungen beitragen. Häufig gäbe es viel zu wenig Personal und keine verstetigte Präsenz von Unterstützungsangeboten vor Ort. Viele Eltern und Kinder erhielten nicht die Hilfen, die notwendig seien, um die Folgewirkungen psychischer Belastungen abzumildern. Daher bestehe ein hohes Chronifizierungsrisiko mit deutlichen Auswirkungen auf den weiteren Lebenslauf.
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Podiumsdiskussion
Die anschließende Podiumsdiskussion – mit den beiden Referenten, dem kommissarischen Jugendamtsleiter der Stadt München Markus Schön, dem Teamleiter der Jugendhilfe für neu ankommende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (JHumf)der Diakonie Hasenbergl Luis Teuber, Prof. Dr. Gabriela Zink (HM), Prof. Dr. Susanne Nothhafft (KSFH) und dem Moderator Prof. Dr. Andreas Schwarz (KSFH) – nahm die wesentlichen Fragestellungen der Veranstaltung nochmals auf und eröffnete die Diskussion mit den anwesenden Expertinnen und Experten aus der Praxis.
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Die Diskussionen zeigte auf, dass die Münchner Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Monaten durch die Aufnahme und Betreuung vieler unbegleiteter wie begleiteter Jugendlicher, Kinder und ihrer Familien extrem herausgefordert ist. Sie modifiziert die Angebotsformen und baut neue Hilfestrukturen auf, all dies unter großem zeitlichem Druck und zum Teil widersprüchlichen Gesetzesanforderungen. So hat die Stadt München beispielsweise Anfang April das „Young Refugee Center“ eröffnet und die freien Träger haben eine Vielzahl unterschiedlicher Beratungs- und Betreuungsangebote aufgestellt.
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All diese Anstrengungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe vor dem bestehenden gesellschaftspolitischen Hintergrund mit ihren unterschiedlichen Kooperations- und Vernetzungspartnern vor vielfältigen und langfristigen Herausforderungen in der Gestaltung integrierter Lösungen stehen. Häufig fehlen beispielsweise noch passgenaue, gut aufeinander abgestimmte Angebote zur adäquaten Versorgung von Menschen, die unter vielfältigen Belastungen geflohen sind bzw. finden Aspekte von Teilhabe zu wenig Beachtung.
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Diese Herausforderungen benötigen einen fachpolitischen Diskurs über die jeweiligen Institutionen hinweg, damit die ankommenden Kinder, Jugendlichen und Eltern den notwendigen Schutz erfahren und ihnen die Zugänge zu Gesundheit und Bildung, zu Arbeit, Wohnung und Existenzsicherung sowie zur Partizipation und Teilhabe ermöglicht werden.
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Die Veranstaltung zeigte, wie groß der Bedarf an einem übergreifenden Austausch ist, der mit den weiteren Fachtagungen fortgeführt und intensiviert werden soll. Ziel ist der Austausch der Fachkräfte der Münchner Kinder- und Jugendhilfe zum Hilfebedarf der geflüchteten Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien sowie zur Gestaltung von fachlich stimmigen Übergängen und Kooperationen.
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Weitere Veranstaltungen der Reihe „Im Dialog. Münchner Hochschulen und die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe – Kinder, Jugendliche und Familien nach der Flucht“:
Fachtag: „Fokus Praxis“ an der Katholischen Stiftungsfachhochschule
21.06.2016, 9:30-17:00 Uhr
Fachtag: Fokus Hochschulen an der Hochschule München
11.10.2016
Abschlussveranstaltung an der Kath. Stiftungsfachhochschule
21.11.2016
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Hochschule München – HOCHSCHULKOMMUNIKATION