Warum verurteilen Richterinnen und Richter Jugendliche zum Lesen?
Straffällig gewordene Jugendliche profitieren vom Lesen und der Auseinandersetzung mit Büchern oft mehr als von herkömmlichen Strafen. Im Leseprojekt KonTEXT der HM lesen und besprechen Studierende ausgewählte Romane mit den Jugendlichen. Dadurch kommen sie zum Nachdenken über sich und ihr Verhalten.
Zu diesem Thema entwickelte HM-Professorin Caroline Steindorff-Classen von der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften gemeinsam mit Studierenden das KonTEXT Leseprojekt.
Was hat Sie angetrieben ein Leseprojekt für straffällig gewordene Jugendliche aufzusetzen und wie läuft es ab?
Zu der Idee für das Projekt kam es aufgrund von Zweifeln am pädagogischen Wert von Sozialstunden, der am häufigsten eingesetzten Erziehungsmaßnahme für junge Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Als Alternative dazu entstand 2011 inspiriert durch ein ähnliches Leseprojekt in Dresden das KonTEXT Leseprojekt an der Hochschule München. KonTEXT setzt auf die Förderung von Bildung und die Vermittlung von Denkanstößen durch die Auseinandersetzung mit Literatur. Studierende diskutieren mit den Projektteilnehmenden über ausgewählte Romane und andere literarische Texte, die gemeinsam gelesen und in Einzelgesprächen reflektiert werden.
Was waren beispielsweise die Wirkungen bei den straffällig gewordenen Jugendlichen und den Studierenden und wie hat sich Kontext im Laufe der 10 Jahre gewandelt?
Immer wieder zeigte sich, wie stark der Austausch über gemeinsam gelesene Literatur zum Nachdenken über das eigene Leben und Verhalten anregen kann. Den beteiligten Studierenden vermitteln die Gespräche außerdem wertvolle Einblicke in oftmals prekäre Lebensverhältnisse, mit denen sie zuvor oft noch nie in Berührung gekommen sind. Die positiven Erfahrungen im Projekt führten im Laufe der Jahre nicht nur zu weiteren Projektangeboten (z. B. Bücherei im Jugendarrest), sondern auch zu zahlreichen Weiterentwicklungen im organisatorischen und methodischen Bereich. Dazu zählen die Entwicklung einer projekteigenen Management- und Lernplattform sowie die Professionalisierung der Arbeit mit dem Medium Literatur.
Wie ist der aktuelle Stand des Projekts?
Bis zum heutigen Tag hat das Projekt über seine verschiedenen Angebote (vor allem Lesegruppen in der Jugendarrestanstalt München) annähernd 10.000 junge Menschen zwischen 14 und 23 Jahren in und außerhalb der Haft erreicht. Es hat eine Reihe von renommierten Auszeichnungen erhalten und die Entwicklung zahlreicher weiterer Leseprojekte in- und außerhalb von Deutschland angeregt. Möglich war das nur dank des Einsatzes von vielen Hundert engagierten Studierenden und weiteren Unterstützern in der Hochschule sowie eines eigens gegründeten Fördervereins.
Wie sieht die Zukunft von KonTEXT aus?
Aktuell steht KonTEXT vor großen Herausforderungen, da die knappen Ressourcen einem deutlich gestiegenen Unterstützungsbedarf sowohl auf Seiten der Teilnehmenden, als auch bei den mitwirkenden Studierenden gegenüberstehen. Dennoch ist aufgrund der bisherigen positiven, durch Studien gestützten Erfahrungen mit dem Wirkungspotenzial von Literatur kein Rückbau, sondern ein weiterer Ausbau des Projekts geplant: Über Qualifizierungsangebote für Fachkräfte und weitere Maßnahmen soll der gewinnbringende methodische Ansatz bundesweit in die Breite getragen und für zusätzliche sozialpädagogische und klinische Arbeitsfelder erschlossen werden. Ohne starke Partner aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden sich diese Ziele allerdings nicht erreichen lassen. Das Projektteam freut sich deshalb über Unterstützungsangebote an kontext@hm.edu.
Weitere Informationen zum Projekt erhalten Interessierte auf der KonTEXT-Webseite.
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